BRIEFE INS NICHTS

Letres te n fol

ladinROMANdeutsch


Titelbild


Rut Bernardi

Illustrationen/Rötelzeichnungen: Jutta Katharina Kirschl

140 Seiten, broschiert
2003
Auflage: 500 Stück, € 19
ISBN 3-901735-13-5



Beta spricht nicht. Keinem wäre eingefallen, dass sie aus Protest nicht spricht.

"Meine Welt war viel weiter und reicher, gerade weil ich sie nicht in eure Sprachen einsperren ließ."


Sce pense sen a vost batolament me mucia I rì. L chiet ne tegnivaise nience no fora n diesc seconc. Y cie banalités che vos dijovais per emplenì fora chel chiet. Stovais tant ert anter jent zenza dì valch. Ne savovais mai can che al fossa sté ora de tegni la musa. Te cere momenc essaise dit scialdi deplù see essais scuté.
"Al é miec scuté de dut chel che ne se lascia nia dì", ova dit I filosof Ludwig Wittgenstein. Ma chi I ova pa liet?
Chel che se lascia dì é a la fin empò dut bele chilò y bele n iade o I auter vegnù dit da zachei. Demè sce fossan bogn de di chel che ne se lascia nia dì y che ne é ciamò mai vegnù dit, podéssel nes joé a tegnì fora chesta vita y poester nes daidé a nes capì n
fruz miec. Ma de chel che ne se lascia nia dì, podonse demè dì, che al ne se lascia nia dì y ne I podaron mai dì fora. Sce la rejoneda fossa bona de se svilupé enchin al pont de podei dì fora dut I mond entier, dapò fòssela bonamenter demè plu na dreta fuera che ne finassa plu. Anter nosta coscienza dl mond dla realté y la comunicazion ne pò nia ester n liam endret. Fin che zeche de nosta coscienza vegn da nosta bocia fora en forma de parola se àl bele tant mudé y sfauzé che ne podon nia plu ti avei creta.
Chest fat ne essi mai podù azeté y tegni fora. Fosse deventeda mata o isterica. Y dant mucé tla isteria, co che tantes d'eles a messù fé ti centenés passés, éi empò ciamò chiri fora I scuté. Cie te resta pa auter che deventé isterica o scuté defin sce tia rejoneda dl corp ne vegn nia entenuda? Chela rejoneda personala, corporala, tant plu espressiva.

Wenn ich jetzt an euer Gerede denke, muss ich lachen. Die Stille hieltet ihr nicht einmal zehn Minuten lang aus. Und was für Banalitaten ihr dahersagtet, um die Stille auszufüllen. Ihr fühltet euch nicht wohl in Gesellschaft, ohne etwas zu sagen. Ihr erkanntet nie, wann es an der Zeit gewesen wäre, den Mund zu halten. In gewissen Situationen hättet ihr mehr gesagt, wenn ihr geschwiegen hättet.
"Worüber man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen", hat der Philosoph Ludwig Wittgenstein geschrieben. Aber wer hat ihn schon gelesen?
Alles, was sich sagen lässt, ist doch schon hier und irgendwann schon einmal von jemandem gesagt worden. Nur wenn wir in der Lage wären zu sagen, was sich nicht sagen lässt und was noch nie gesagt worden ist, könnte es uns helfen dieses Leben zu ertragen und vielleicht helfen, uns ein wenig besser zu verstehen. Aber worüber sich nichts sagen lässt, können wir nur sagen, dass es nicht sagbar ist und wir werden es nie ausdrücken konnen. Wenn die Sprache sich bis zu jenem Punkt weiterentwickein würde, bis die ganze Welt ausdrückbar wäre, dann wäre sie höchstwahrscheinlich nur noch ein einziger unendlicher Lärm. Zwischen unserem Bewusstsein der Wirklichkeit und der Verständigung kann keine direkte Verbindung bestehen. Bis etwas aus unserem Bewusstsein, aus unserem Mund in Form eines Wortes kommt, hat es sich schon so verändert, verfälscht, dass wir es nicht mehr glauben können.
Diese Tatsache hätte ich nie akzeptieren und ertragen können. Ich wäre verrückt oder hysterisch geworden. Und bevor ich in die Hysterie flüchtete, wie es so viele Frauen in den vergangenen Jahrhunderten tun mussten, hatte ich das Schweigen gewählt. Was bleibt dir anderes übrig als hysterisch zu werden oder zu schweigen, wenn deine Körpersprache nicht verstanden wird? Jene persönliche, sinnliche und ausdrucksvollere Sprache.


Rut Bernardi, *1962, St. Ulrich in Gröden

Schigymnasium Stams (A). Studium der Romanistik in Innsbruck. 1 Jahr Bordeaux. 3 Jahre Mitarbeit am "Handbuch des Rätoromanischen" (Universität Zürich). Ladinischunterricht in St. Ulrich. 1991 Dialog "Rumantsch Grischun Y Ladin Dolomitan. Ntraunida lenguistica. Turic - Urtijëi" veröffentlicht. Lehrbeauftragte für Rätoromanisch an den Universitäten Zürich, Innsbruck und München. Mitglied der ladinischen Kommission für die Dreisprachigkeitsprüfung und die lad. Lehramtsprüfung in Südtirol. 1995 Preisträgerin bei den "5. dis da litteratura rumanica" in Domat (CH).