AM HERZEN EUROPAS 9
DOLOMIT
EIN GIPFELBUCH
Gedichte von den
Dolomiten / Poejies dala Dolomites
Ladinische
Anthologie
Herausgeberin: Rut Bernardi
Textbeiträge: Rut
Bernardi, Roberta Dapunt, Christian Ferdigg, Josef Kostner, Stefano
Dell'Antonio Monech, Tresele Palfrader, Ulrica Perathoner, Frida
Piazza, Ingrid Runggaldier, Mateo Taibon, Erica Senoner, Markus
Vallazza, Roland Verra, Veronika Zanoner-Piccoljori
Übersetzer: Bruno
Schmid, Göri Klainguti
Bildbeiträge: Lois
Anvidalfarei, Renate Weber
106 Seiten, broschiert
2007
Auflage: 500 Stück, € 19
ISBN 3-901735-20-8
ISBN 978-3-901735-20-2
EAN 9783901735202
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ÜBERSEHEN UND ÜBERHÖRT:
LITERATUR DER KLEINSPRACHEN
LITERATUR DER "WENIGERHEITEN"
Literatur der Minderheiten passt vielen nicht ins Konzept. Zu
offensichtlich widerspricht sie, zumal in zeitgenössischer
Ausrichtung, den gängigen Klischees. Der Betrachter von
außen sieht bei den Minderheiten gern das Exotische - Trachten
erwecken meist mehr Neugier als Sprache, Literatur oder Kunst. Die
Minderheiten werden allzu gern auf folkloristisches Beiwerk reduziert,
auf dass die sie betrachtenden Mehrheiten selbstgefällig das
Gefühl kultureller Vielfalt und ethnischer Toleranz pflegen
können.
Für die Politik ist Folklorismus angenehm, weil damit keine
Einforderung von Rechten für Sprache und Kultur einer
Sprachgemeinschaft verbunden sind. Die Medien, die als erste den
Klischees und Vorurteilen entgegenwirken müssten, leisten der
Verniedlichung oft eine (der Branche nicht zu Ehren gereichende) Hilfe:
Minderheiten werden in Tracht abgebildet, als seien ihre
Angehörigen auf jeden Fall eine besonders rückständige
Gattung Mensch.
Dabei ist übrigens der Begriff der "Minderheit" zu hinterfragen -
und abzulehnen. Da ist nichts "minder", sondern höchstens "weniger
verbreitet", numerisch kleiner. Die Ladiner in den Dolomiten sind
ungefähr 35.000 - eine sehr kleine Sprachgemeinschaft also, zudem
auf drei Provinzen aufgesplittert: Bozen, Trient, Belluno. Diese
Dreiteilung hatte Benito Mussolini gewollt, um den "grauen Fleck", wie
er Ladinien nannte, auszulöschen. Diese faschistische
Assimilierungsmaßnahme wurde bis heute nicht rückgängig
gemacht. In jeder der drei Provinzen sind die Ladiner ganz deutlich in
der Minderzahl (in Südtirol ca. 4%). Ein Hinterland - wie die
deutschsprachigen Südtiroler - haben sie nicht, sie können
somit keine medialen oder kulturellen Produkte importieren. Dies ist
nur einer der Nachteile, die sich aus der geringen Zahl der Sprechenden
ergeben (und durch die Kulturpolitik nicht abgeschwächt werden).
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Ein kultureller Minder-Wert ergibt sich aus der
geringeren numerischen
Konsistenz einer Sprachgemeinschaft in keiner Weise. Das Gegenteil zu
behaupten ist schlicht und einfach Rassismus, und dennoch häufig
anzutreffen, interessanter Weise auch bei Angehörigen der
Minderheit selbst, die Zeit ihres Lebens darunter leiden, dass sie
nicht der Mehrheit angehören und aus ihrem ungelösten und
unlösbaren Minderwertigkeitskomplex heraus - was umso mehr
neurotische Züge aufweist, als die Identität, in die man
hineingeboren wird, nun mal nicht abzuändern ist - gegen die
eigene Sprachgemeinschaft agitieren.
Wenn in Südtirol von "Minderheit" die Rede ist, so sind in der
Regel nicht die Ladiner gemeint, sondern die deutsche Sprachgruppe -
die jedoch Mehrheit ist und nicht Minderheit. Die Ladiner werden von
ihren anderssprachigen Nachbarn meist nicht zur Kenntnis genommen.
Meist nicht zur Kenntnis genommen wird auch die ladinische Literatur;
häufig wissen unsere anderssprachigen Nachbarn nicht einmal, dass
es eine solche gibt. Und da sie die Sprache nicht beherrschen,
können sie diese auch nicht beurteilen. Doch die Wissens- und
Bildungslücke ist den wenigsten bewusst. Auch die Presse kommt aus
diesem Kreis der Nicht- und Un-Kenntnis nur selten heraus. Ladinische
Literatur wird in deutschen oder italienischen Medien selten zum
Gegenstand von Berichterstattung, geschweige denn von tiefer gehender
Auseinandersetzung. Dass die Redakteure die Sprache nicht beherrschen,
kann man nicht zum Vorwurf machen; sehr wohl kann man ihnen aber
vorwerfen, dass sie nicht daran denken, mit Hilfe ladinischer Kollegen
über den Tellerrand ihrer Sprache hinauszusehen - auch in der
Literatur also die sattsam bekannte Nabelschau.
Da bleibt als einziges Mittel, die Offensive - die Übersetzung
durch die Autoren selbst. Die vorliegende Veröffentlichung ist
eine Offensive. Auf dass Poesie ihre Stimme - ausnahmsweise - laut
erhebe!
Mateo Taibon
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Grafik: G.K.N.
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VORWORT
Was ist schon ein Vorwort im Zusammenhang mit Literatur, es kann
nur ein Einatmen sein, Luft- und Atemholen, um dem Wort Klang und
Schwingung zu verleihen. Hier ist es aber auch erleichtertes Ausatmen,
dass wir es nach Jahren der Suche in den verzweigten Tälern des
Ladinischen doch noch geschafft haben, diese Dichterinnen und Dichter,
diese erlesene Auswahl an Gedichten zu finden.
Noch kaum einmal bei einer Wenigerheit ist mir die emotionale Bindung
an die Muttersprache - in etlichen Gedichten stark zu Wort
gekommen - derart deutlich bewusst geworden wie hier.
Was mich veranlasste, die Arbeit an der ladinischen Anthologie - nicht
nur zufällig "Dolomit" genannt - zu beginnen und über alle
Schwierigkeitsgrade "zum Gipfel" zu führen, Steine im Weg,
schweres, aber auch wunderschönes Gestein, das arbeitet und
bearbeitet werden kann - einst Kletterparadies für unseren Vater
Kurt Nitsche - und mich immer wieder neu motivierte, ist die von Rut
Bernardi und Mateo Taibon geschilderte Lage, die Ausgesetztheit des
Ladinischen, in Gefahr wie die anderen Wenigerheiten-Sprachen von
Globalisierung überrollt, ausgelöscht zu werden. Da gilt es,
sich wie ein Bergsteiger daran festzuhalten, schwierige Passagen zu
meistern, um sich endlich ins Gipfelbuch eintragen zu können,
"Dolomit" - ein Gipfelbuch?, die Qualität der Texte spricht
dafür; Lyrik ist literarische Höhenwanderung.
Die Bergführerin für unsere "Dolomit"entour ist Rut Bernardi,
ich danke ihr herzlich dafür, dass sie die Herausgeberschaft mit
allen Lasten von Textbeschaffung, Übersetzung, Korrektur, ja sogar
Abtippen ... übernommen hat und selbst auch eigene Lyrik
beiträgt.
Gerald Kurdoglu Nitsche
Atelier im Kårrnerwaldele
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Text: Mateo Taibon / Grafik: Josef Kostner
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